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kenya smallkenya smallBei Stargardtern dauert es immer ein wenig länger, bis sie erkennen, was grad vor ihnen steht oder passiert. Das ist manchmal unangenehm, weil sie keine Vorwarnung erhalten, überrascht werden und spontan reagieren müssen. Es schützt aber auch vor vorschnellem Urteilen.

Die Organisation in Kenia, für die ich die letzten vier Jahre gearbeitet habe, erbringt soziale Dienstleistungen für die lokale Bevölkerung: Kinder in Not, Gewaltopfer, Personen mit Sucht- oder psychischen Problemen. Die Mehrzahl der Hilfesuchenden werden von Freiwilligen oder SozialarbeiterInnen betreut, vielen kommen aber auch eigenständig vorbei. Anlässlich einer Retraite der Organisation zum Thema "Wie können wir die Qualität unserer Dienstleistungen gewährleiten?" hat ein Kollege eine eindrückliche Selbstreflektion gemacht. Sein Büro hat einen direkten Blick auf das Eingangstor, und er meinte, dass er in all den Jahren, die er nun hier arbeitet, gelernt hat, auf den ersten Blick zu erkennen, welche Art der Hilfe die Person sucht, die grad durch das Tor kommt. Er fragte sich und uns, ab das nicht ein Zeichen der Abstumpfung sei und dazu führe, dass die Hilfesuchenden nicht mehr die uneingeschränkte Offenheit und Unvoreingenommenheit erfahren, die sie eigentlich verdienen. Dieses schnelle Urteilen und Einordnen droht, die Qualität der Hilfestellung zu mindern.

Ich war einmal mehr erstaunt, dass die Normalsehenden dazu imstande sind. Ich kann grad in etwa erkennen, ob jemand durch das Tor kommt oder nicht, es ist mir unmöglich, einzuschätzen, welche Art der Hilfestellung die Person sucht. Dazu müssten die Leute sehr viel näher kommen. Es reicht in aller Regel auch nicht, wenn sie zwei Meter vor meinem Schreibtisch stehen: Je nach Beleuchtung sehe ich nur eine dunkle Gestalt. 

Manchmal klopfen die Hilfesuchenden an meine Bürotür und treten auf mein Rufen ein. Ich sehe die Person zwar, bin mir aber nicht sicher, ob es eine Kollegin oder eine Klientin ist, bis sie zu sprechen beginnt. Den einzigen Hinweis, den ich erhalte, ist das manchmal zögerliche Auftreten und Sprechen der Eintretenden. Das ist aber kein eindeutiges Zeichen, da manche meiner ArbeitskollegInnen auch etwas scheu sind, wenn sie mein Büro betreten. 

Als Stargardter ist man vor vorschnellem Urteilen ein wenig gefeit. Das "Auf den ersten Blick" funktioniert nicht, es braucht mehr Informationen, um jemanden zu erkennen und allenfalls einzuordnen. Natürlich urteile ich auch, aber mir bleibt weniger Zeit, zu überlegen, wie ich reagieren soll. Als Überbrückungsstrategie bin ich in solchen Momenten immer höflich und behandle die Leute, als würde ich sie zum ersten Mal treffen. Was manchmal für die Leute komisch ist, die mich zwar kennen, nicht aber meinen Stargardt.

Dieser Artikel ist Teil der "Stargardt in Afrika"-Serie.