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Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, was trotz Stargardt im Büroalltag alles möglich ist. Bei genauerem Hinsehen, zeigt sich jedoch, dass es etliche Hürden gibt, die sich nur schwer umgehen lassen, insbesondere beim direkten Zusammenarbeiten mit anderen Leuten. Das fängt beim simplen Lesen von Akten an und hört beim blinden Präsentieren auf.

Dank diversen Hilfsmitteln, insbesondere aus dem IT-Sektor, kann man als Stargardter einiges and Bildschirmarbeit leisten. Das geht allerdings nicht immer mit der gleichen Geschwindigkeit voran, wie bei Normalsichtigen. Und bei der Arbeit in einer Gruppe ergeben sich häufig etwas bizarre Situationen. Hier ein Beispiel: Um neun beginnen wir mit einer Sitzung. Ich habe mir die freundlicherweise vorneweg versandten Unterlagen durch den Screenreader vorlesen lassen, nur das eine pdf-Dokument wollte partout nicht akustisch umgesetzt werden. Muss wohl an der Art und Weise liegen, wie das Dokument erstellt wurde. Und die etwas komplexe Excel-Tabelle tönt im Screenreader eher nach ein dadaistisches Gedicht als an einen Arbeitsplan.Also habe ich mir mit der Bildschirmlupe durchgekämpft. Im Sitzungszimmer liegen weitere Unterlagen an den Plätzen bereit: die letzten Informationen zum Thema. Ich packe mein Handheld-Vergrösserungsgerät aus und beginn zu lesen. Da ich damit (und auch generell) zwei bis dreimal langsamer lese als die anderen, schaffe ich kaum die erste der beidenSeiten, als die anderen schon fertig sind und in die Diskussion einsteigen. Ich überfliege die zweite Seite  diagonal - was mit einem Vergrösserungsgerät ein Sammeln von Text-Stichproben ist, in der Hoffnung, dass diese zusammengesetzt einen Sinn ergeben - und diskutiere an jenen Stellen mit, wo ich weiss um was es geht - und wo ich was dazu sagen kann. Als die Diskussion auf die zweite Seite wechselt, höre ich in erster Linie zu, um mir den Inhalt derselben zu erschliessen. Am Schluss glaube ich, das Wesentliche erkannt zu haben, und kann mich wieder einbringen.

Danach wird das Thema in Unterpunkte aufgeteilt und in Gruppen vertieft. Jede Gruppe erstellt eine Flipchart mit ihren Überlegungen. Kein Problem soweit, doch danach dürfen alle von Flipchart zu Flipchart gehen und Ergänzungen anbringen. Hier falle ich aus: Handschriften sind eine Harausforderung (auch meine eigne ...), und um sie zu entziffern, müsste ich mich so nah vor der Flipchart aufstellen, dass niemand anders mehr etwas sehen würde. Ich warte also, bis sich die Gruppen wieder vereinen, und jede Flipchart zusammen bespricht, und hoffe, dass mir das niemand als Desinteresse auslegt. Die diversen Zusammenfassungen bringen mich wieder auf den aktuellen Stand. Die Frage nach weiteren noch zu ergänzenden Punkten kann ich in der Regel nicht beantworten, das mir verschlossen ist, was im Detail genau auf den Charts steht.Ich habe nur die mündlichen Zusammenfassungen. Während die anderen das Problem weiter analysieren und zerlegen und erste Schlussfolgerungen ziehen, versuche ich Muster zu erkenne und den Bezug zum übergeordneten Rahmen herzustellen. Statt zu analysieren, beschäftige ich mich schon mal mit der Synthese: Worauf läuft das Ganze hinaus? Passt es noch zum Leitbild der Organisation? Welche Relevanz hat es zu anderen Themen? Manchmal kann ich dank diesem Vorgehen eingreifen, wenn sich die anderen in Detailaspekten zu verlieren drohen. Ich sehe das als eine direkte Anwendung von Stargardt: Mir gehen viele Details durch die Lappen, also konzentriere ich mich auf die grossen Linien, die übergreifenden Zusammenhänge. Es bleibt der Ärger darüber, dass ich nicht so zum Thema beitragen kann, wie ich gern möchte. Das Thema ist für mich immer noch ein Patchworkk von Teilen, die ich mitbekommen habe, und Löchern, wo mir Informationen fehlen.

Weiter im Tagesablauf: Am Nachmittag soll die Gruppe vom Vormittag ihre Einsichten einer grösseren Anzahl Leute präsentieren. Ich muss die Anfrage, ob ich das machen will, ablehnen, da ich nicht mit einer handgeschriebenen Flipchart als Vorlage sprechen kann. Das ginge nur, wenn ich sämtliche Punkte auf der Chart auswendig lernen würde, was bei der Kürze der Zeit nicht machbar ist. Zudem fehlen mir einige Hintergrundinformationen und Diskussionsergebnisse (siehe oben), die ich bräuchte, um die Ergebnis-Flipchart besser erläutern zu können. Glücklicherweise habe ich im Anschluss eine andere Präsentation zu geben, als Input in ein weiteres Thema. Damit kann ich mich gut aus der Affäre stehlen ...

Für meine Präsentation steht ein Laptop bereit - nur steht er nicht wie erwartet auf einem Rednerpult, sondern auf einem normal hohen Tisch. Die Organisatoren drücken mir eine Fernsteuerung zum Weiterschalten der Folien in die Hand und erteilen mir das Wort. Ich stehe nun da vor einem Tisch mit einem Laptop, dessen Bildschirm ich nicht lesen kann. Ich habe meinen Beitrag zwar so vorbereitet, dass ich frei sprechen kann. Für einige Aufzählungen wäre ich aber auf eine Gedächtnisstütze angewiesen, da ich diese nicht auswendig gelernt habe. Die Leinwand hinter mir hilft leider nicht weiter, sie steht in einem derart spitzen Winkel zu mir, dass ich darauf auch nichts erkennen kann. Und mein Publikum kann ich auch nicht sehen, da es zu weit von mir weg sitzt und der Beamer mich blendet, auch wenn ich nicht direkt im Projektionsstrahl stehe. Ich nenne so was eine blinde Präsentation. Doch ich kenne ja mein Thema und die Fotos auf einigen Folien weisen mir auf, wo ich grad stehe in meiner Argumentation. Leider sind die letzten paar Folien nicht bebildert, und prompt erkenne ich meine letzte Folie nicht und verpatze den Abschluss meiner Präsentation.

Das nächste Mal werde ich die Präsentation doppelt schreiben: Einmal für die Zuhörer und den Laptop, und einmal für mich und meinen eigenen Laptop. Die zweite bietet mir die Stichworte, die ich brauche, um durch die erste zu kommen. Nun muss ich nur noch einen Trick finden, wie ich zwei Präsentationen gleichzeitig bedienen kann …